Wenn Blinde schießen lernen.

Wenn Blinde beginnen, mit geladenen Gewehren auf entfernte Scheiben zu schießen, wird es Zeit, darüber nachzudenken, ob wirklich alles mit rechten Dingen zugeht. Ja, selbst wenn man unterstellt, dass der Platz vor dem Lauf von wohlmeinenden Sehenden rechtzeitig freigeräumt wird, und auch bisher von schlimmeren Verletzungen unbeteiligter Dritter noch nichts bekannt wurde, macht das Zusehen doch irgendwie betroffen.

Paralymics, und, um Missverständissen vorzubeugen: es sei ausdrücklich erwähnt, jeder Spaß sei gerade allen Behinderten in besonderem Maße gegönnt! ist doch eine eigenartige Veranstaltung, die einen Geschmack hat wie eine Mischung aus Kindergeburtstag, Mitleid, Voyeurismus und Entschuldigung: so richtig ernst scheinen die Wettkämpfe vornehmlich nur für die Beteiligten zu sein, und der unvermeidbare Vergleich mit anderen sportlichen Wettkämpfen hinkt augenfällig.

Was betroffen macht ist, dass der einbeinige Hürdenläufer dem Zweibeinigen stets hinterherlaufen wird. Diese Gewissheit bleibt, auch wenn aus diesem Grunde die nichtbehinderten Zweibeinigen nicht teilnehmen dürfen. Der blinde Biathlet trifft nicht halb so viele Scheiben und läuft deutlich langsamer, schon, weil ein Begleiter ihm permanent vorausfährt.

Diese Unechtheit des Wettbewerbs mutet seltsam an und zeigt, dass die Medallie noch eine Rückseite hat, die nicht gezeigt wird und die niemand so richtig wahrhaben will: mit Integration und Normalität hat all das nichts zu tun.

Nun ist es eine menschliche Schwäche, diejenigen Dinge besonders gern und bevorzugt zu tun, die man am wenigsten kann. Klar würde der einbeinige Hürdenläufer verlieren, aber er bemüht sich kräftig. Damit er chancenreich bleibt, gehen nur Einbeinige gleichzeitig an den Start, und plötzlich manifestiert sich eine Fülle neuer Klassifikationen nach mehr oder weniger ähnlichen und schwerwiegenden Behinderungen.

Es finden sich Einbeinige, Rollstuhlfahrer, Blinde und Gehörlose zusammen, und viele von ihnen tun Dinge, die ihnen, wenn man es klaren Blickes betrachtet nicht wirklich optimal entsprechen, unbenommen der Annahme, dass es ihnen möglicherweise viel Spaß macht. Biathlon für Blinde, da liegen auch andere Vorschläge nahe. Es mag ungehörig sein, es drängt sich aber auf: Schachturniere für geistig Behinderte, Memory-Veranstaltungen für Alzheimerkranke – nicht viel absurder, und für dessen Teilnehmerkreis möglicherweise nicht weniger erquicklich.

Die Regeln von Sportarten orientierten sich bisher, wer mag es glauben, ziemlich genau an der Anatomie der Sportler, die diese Sportarten betrieben. So ist es heute noch bei Olympia, so ist es bei der Fussball WM. Nur bei den Paralympics hat sich das nicht recht durchgesetzt, hier wird der Sport von Olympia imitiert, wirklich eigene und den Umständen entsprechende Sportarten gibt es kaum.

Was spricht eigentlich dagegen, dass ein Nichtbehinderter an einem Rollstuhl-Fussballturnier teilnimmt? Wozu diese Trennung nach echten Sportlern und Para-Sport? In Wahrheit gibt es doch viele Behinderte, die Fähigkeiten entwickelt haben, die Nichtbehinderte niemals erreichen. Gäbe es den Sumo-Sport nicht, würde man die in Japan hochangesehenen Sumoringer wohl als Fettklöße verhöhnen. Ohne den Boxsport würden einige Boxer allenfalls als Menschen betrachtet, denen man nachts nicht auf der Straße begegnen wollte. Der Sport hat die Freiheit, sich auf die Menschen zuzubewegen. Er ist frei für fast jede Art von Idee.

Und wenn man schon die Freiheit hat, die Regeln selbst und durchaus zu seinem Vorteil zu bestimmen, dann gehört es auch dazu, dass jeder teilnehmen darf. Eine Trennung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten ist das Gegenteil von Integration, zeigt wenig Wahrheit und wird wohl auch auf Dauer eher mitleidig zur Kenntnis – anstatt ernst genommen.

03/2010 Martin Richter

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