Die journalistische Zeitenwende nach Relotius hat die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 22. Dezember 2018 noch nicht realisiert. Es ist zu hoffen und zu vermuten, dass Beiträge wie „Brasiliens „deutscheste“ Stadt auf Seite Drei der Süddeutschen Zeitung im seriösen Journalismus fortan keine Zukunft mehr haben.
Wann hat ein Schreibtisch eine unterste Schublade? Sind zwei Schubladen vorhanden, gäbe es eine obere sowie eine untere Schublade, bei dreien käme eine mittlere hinzu. Frühestens also in Falle von vier untereinander angeordneten Schubladen dürfte man also von einer untersten Schublade sprechen.
In der Seite-3-Reportage Brasiliens „deutscheste“ Stadt der Süddeutschen Zeitung vom 22.12.2018 skizziert der Journalist Boris Herrmann die Kleinstadt Pomerode in Brasilien. Dort hat eine überwältigende Mehrheit rechtsradikal gewählt. Die Gründung von Pomerode geht auf deutsche Siedler im 19. Jahrhundert zurück.
Wo immer Herrmann hin sah oder hinhörte, traf er auf vermeintlich deutsche Tugenden, deutsches Kulturgut, deutschen Fremdenhass und deutschen Rechtsradikalismus.
Herrmann besucht das Rathaus am „Greifswalder Platz“: der Name Greifswald assoziiert neben zahlreichen rechtsradikalen Umtrieben auch den deutschen Reichsadler. Doch leider: in Google Maps wie auch in Google Earth sucht man einen Greifswalder Platz in Pomerode vergeblich. Der portugiesische Begriff „Praça de Greifswald“ bringt ebenso keine Ergebnisse.
Richtig bekannt scheint die Ortsangabe nicht zu sein, und laut Google befindet sich das Rathaus, die „Prefeitura Municipal De Pomerode“ in der „R. 15 de Novembro“. Doch dann, irgendwo abseitig auf der offiziellen Homepage von Pomerode: tatsächlich erhielt dort der Platz vor dem Rathaus anlässlich der seit 2005 bestehenden Städtepartnerschaft mit Greifswald im Jahr 2009 den Namen „Praça de Greifswald“. Jenseits einer recht unpräzise angebrachten Ortsmarkierung in Google Maps und einem Foto in schlechter Qualität weist leider nicht viel auf die Existenz dieses Platzes hin. Dass ein Strassenschild existiert, das Rathaus auf seinen Briefbögen den „Praça de Greifswald“ als Anschrift angibt oder überhaupt irgendein relevanter Bevölkerungsanteil in Pomerode mit dieser Ortsangabe jemals konfrontiert wurde, darf mit Nichtwissen begründet bezweifelt werden.
Boris Herrmann skizziert Pomerode als einen Ort spiesserhaften Deutschtums, in dem blauäugige Rechtsradikale, während sie in Vorgärten die Blumentöpfe nach Farben sortieren, Fremde misstrauisch beäugen.
Und wenn schon die Bürgermeisterin den Stolz der Pomeroder auf ihre blauen Augen betont, ist es für den Journalisten Herrmann im Anschluss offenbar unnötig, eigene Beobachtungen mit den Äußerungen seiner Gesprächspartner abzugleichen. Wer auf Twitter oder Facebook nach Fotos sucht, die in Pomerode aufgenommen wurden, wird leider jämmerlich enttäuscht. Nur mit wirklich viel gutem Willen lässt sich sehr vereinzelt ein leichter Blauschimmer in den Augen dort fotografierter Personen identifizieren.
Man sollte nicht kleinlich sein, wenn Herrmann berichtet, in jedem Vorgarten Pomerodes seien die Blumenkübel nach Farben sortiert. Bei 30.000 Einwohnern mag es geschätzt vielleicht 500 Vorgärten geben. In wie vielen davon gibt es Blumenkübel, und wie lange mag es dauern, einen solchen zu finden, in dem ebengerade keine Farbsortierung vorgenommen wurde? Herrmann mag recht haben, aber hat er sich tatsächlich die Arbeit gemacht, wenigstens eine relevante Stichprobe von sagen wir 50 Vorgärten auf die korrekte Blumenkübelsortierung zu untersuchen? Und die Mühe auf sich genommen, vielleicht ein oder zwei Stunden in der Sommerhitze Pomerodes die Sortierung von Blumenkübeln zu prüfen? Alle Achtung vor jeder belastbaren Recherche.
Der angesichts seiner linken Gesinnung eher unverdächtige Gewerkschafter Antenor Zimermon behauptete laut Herrmann, „der Alltag der Stadt sei nicht von Fremdenfeindlichkeit geprägt“. Das stört Herrmann nicht, bereits wenige Sätze später, ohne Kontextreferenz nahezu gegensätzlich zu behaupten, in Pomerode brauche es für „Fremdenfeindlichkeit keine Fremden“. Wohlbemerkt, eine Aussage über Pomerode als Ganzes, nicht über einzelne Protagonisten, anhand derer er seine Aussage möglicherweise hätte belegen können. Während sich Demoskopen zu einer derartigen Festlegung wohl eher nicht hinreissen ließen, gelingt Herrmann dies scheinbar aus dem Handgelenk. Beeindruckend!
Die rot-weiss karierten Tischdecken, der Partymix mit Bony M. und Drafi Deutscher im Siedlertal: ja, Herrmann ebenso wie sein Fotograf wollen das gesehen und gehört haben. Das mag sein, und doch wird man zumindest auf der Homepage des Restaurants Siedlertal auf zahlreichen dort vorhandenen Fotos keine einzige rot-weiss karierte Tischdecke ausmachen.
Von einem Übersetzungsfehler ist auch nicht auszugehen, wenn der deutschsprachige, aus Hannover stammende Sven Surkemper mit dem Satz: “die sind alle ein bisschen rechtsradikal hier, das gefällt mir natürlich“ zitiert wird. Es ist möglich, das er das gesagt hat, und doch mutet das Zitat eigentümlich an. Denn zumindest im deutschen Kulturraum ist es eher eine seltene Ausnahme, dass Rechtsradikale sich und Ihresgleichen als „rechtsradikal“ bezeichnen. Rechts wäre üblich, national, rechtsnational, und vieles andere mehr, die Selbstbezeichnung als „rechtsradial“ wäre eine bemerkenswerte Ausnahme.
Eine zentrale Figur, die Herrmann als Fahnenträger des örtlichen Rechtsradikalismus ausgemacht hat, ist Dirk Webers, Inhaber einer Sicherheitsfirma und laut Herrmann einer der „erfolgreichsten mittelständischen Unternehmer“ in Pomerode. Die Quelle für diese Behauptung legt Herrmann nicht offen, sie wird aber glaubwürdig, da laut Herrmann an „fast jeder Hauswand“ in Pomerode das Deutsche-Adler-Logo von Webers Sicherheitsfirma hängt. Das ist nicht nur der Beweis für Webers Erfolg, gleichzeitig dient das als Hinweis auf eine überwältigende Bereitschaft der Bevölkerung Pomerodes, sich durch das Aufhängen des Deutschland-Adlers in die weltanschauliche Nähe des rechtsradikalen Unternehmers zu stellen.
Ja, wie Herrmann berichtet, fast jedes Haus, bei vielleicht 3000 Häusern in Pomerode. Es liegt nahe oder wäre mindestens sinnvoll gewesen, wenn Boris Herrmann die Prüfung der Hausbeschilderung, die ohne Zweifel sehr aufwendig gewesen sein müsste, mit seiner Blumenkübelrecherche verbunden hätte.
Doch Herrmanns Geschichte kam doch hauptsächlich deswegen zustande, weil bei der letzten Wahl nahezu 90% der Pomeroder Wähler einen rechtsradikalen Kandidaten gewählt haben. Echtes Glück, dass beim Servieren eines Essens im Restaurant Siedlertal sich herausstellt, daß Herrmann, zufällig oder nicht, ebenjenes Gericht bestellt hat, das auch der rechtsradikale Kandidat beim Wahlkampfbesuch in diesem Restaurant verspeist haben soll. Und der Kellner, augenscheinlich ohne diesen vorher mit einer Frage zu diesem Satz provoziert zu haben sagt laut Bericht: “Sehr gute Wahl, das hat unser künftiger Präsident auch bestellt“.
Herrmann, der Journalist, weiss dieses Überleitungsgeschenk des Kellners in seiner Reportage perfekt zu nutzen. Dass bei 17 verzeichneten Hauptgerichten auf der Speisekarte des „Siedlertal“ Herrmann erstens genau die richtige Wahl traf, und dann auch noch der Kellner offenbar intuitiv spürte, dass exakt dieser Satz dem Journalisten beim Formulieren seiner Reportage eine ganze Menge an Denkarbeit ersparen würde, ist eine eher seltene vorkommende schicksalhafte Fügung.
Ach ja, die Schublade! Ja es gibt sie wirklich, die Schreibtische mit den untersten Schubladen, vier Laden müssen es sein, mindestens. Und wer bei Google sucht, unter „Bilder“, der findet sie. Nicht oft, eher selten, und da es zahlreiche Schreibtische gibt, die auch noch Fächer oder Türen haben, ergibt eine einfache Auszählung, dass bestenfalls vielleicht jeder zehnte Schreibtisch eine „unterste Schublade“ hat.
Das Nazi-Buch, das Webers hervorkramt, stand, wie es Herrmann beschreibt nicht im Bücherregal, war auch nicht irgendwo auf einem abseitigen Stapel gelegen. Nein, Webers entnahm es aus der untersten Schublade seines Schreibtischs.
Wenn es nicht jeden journalistischen Anstands und Ehtik widersprechen würde, hätte Herrmann dem Rechtsradikalen Webers spätestens jetzt sicher gern ein ordentliches deutsches Bier ausgegeben.