Die Frage, ob dem Mörder das Böse bereits in die Wiege gelegt wurde oder er von Geburt an gut war und erst später, im Laufe der Jahre, die Anlage zum Straftäter entwickelt hat, ist bis heute ungeklärt.
Bereits seit rund 200 Jahren beschäftigt dieses Thema die Menschheit intensiv. Wurden die Diskussionen unter dem Stichwort des “Freien Willens” bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts in der Hauptsache von Philosophen geführt, haben sich heute vor allem andere Wissenschaften der Erforschung und der Beurteilung dieser Frage angenommen.
Wenngleich es im Kern immer um das gleiche Thema geht, sind sowohl die Forschungsmethoden, die Forschungsobjekte und auch die Motivationen der Forscher sehr verschieden. Während der Philosoph vor ca. 200 Jahren vom Freien Handeln und Denken ausging, überraschten ihn Hinweise auf eingeschränkte Freiheiten und er versprach sich Erkenntnisgewinn. Der Soziologe, der sich seit etwa 1920 mit diesem Thema auseinandersetzt, untersuchte soziale Strukturen und forderte dessen Veränderung. Als sich dann vor ca. 20 Jahren Genetiker auf die Suche nach den Genen des Bösen machten, hofften sie auf eine biologische Erklärung des menschlichen Modells. Und vor erst ca. 10 Jahren begannen gezielte Forschungen, bei denen Biologen und Neurologen chemische oder (hirn-)elektische Erklärungen für das Straftäterphänomen suchten, nicht zuletzt mit der Vision, nach einem entsprechenden Durchbruch idealerweise eine (pharmazeutische) Therapie anbieten zu können.
Gesucht wird nach Belegen für oder gegen eine genetische Disposition sozialschädlichen Verhaltens und nach Anteilen, die den genetischen bzw. den umweltbedingten Einflüssen zuzurechnen sind. Gesucht wird auch nach Möglichkeiten, wie auf die beobachteten Effekte bessernd eingewirkt werden kann.
Antworten als Spiegelbild der kulturellen Entwicklung
Die gesellschaftliche Akzeptanz der in diesem Bereich tätigen Wissenschaften ist zumindest seit dem Mittelalter einem immer schneller gewordenen Wandel unterworfen. Während Ende des 19. Jahrhunderts Marx und Engels das Zeitalter der Philosophie ausläuteten, hatten bis in die 70er Jahre die Soziologen ihre beste Zeit, mit den 90ger Jahren begann die Ära von Biologie und Gentechnik und heute melden sich Mediziner in ihrer Eigenschaft als Hirnforscher mit Bildern des arbeitenden Gehirns zurück.
Die Antworten auf die Frage des Freien Willens, später die der genetischen Disposition, waren mit dem Entwicklungsstand der einzelnen Wissenschaften eng verbunden. 50 Jahre nach Entdeckung des EEG, eines Verfahrens zum Messen von Hirnströmen, erregte 1979 das Libet-Experiment Aufsehen, als der Physiologe Benjamin Libet mit den für heutige Verhältnisse einfachen Mitteln die Gehinaktivität, die dem Bewegen einer Hand vorausgeht, nachwies. Er entdeckte, dass Gehirnaktivitäten bereits etwa eine halbe Sekunde messbar waren, bevor den Versuchspersonen die Entscheidung, ihre Hand zu bewegen überhaupt bewusst wurde. Wissenschaftler stellten daraufhin die Frage, ob der Freie Wille des Menschen vielleicht eine Illusion ist und spalteten sich damals in die Lager derjenigen, die einen Freien Willen insgesamt anzweifelten, die, welche die Libet-Ergebnisse für Unsinn abtaten und diejenigen, die grundsätzliche Werteentscheidungen noch für möglich hielten.
In neuester Zeit beherrschen spektakuläre Beobachtungen der Hirnforschung die Vorstellung vom “Freien Willen”. Es wurden Auffällgkeiten in der Arbeitsweise von Verbrechergehirnen nachgewiesen, die den Schluss nahelegten, dass Verbrecher nicht Herr ihres Willens, sondern vielmehr Opfer der eigenen Veranlagung sind. Einige Forschungen unterstellten genetische Veranlagungen, neuere Erkenntisse zur sogenannten Plastizität des Gehirns, in der die permanente Veränderung des Gehirns durch praktisches Handeln und Denken nachgewiesen wurde (das Gehirn verändert seine Struktur durch das kriminelle Tun und arbeitet etwa nach einem Mord anders als zuvor) machen deutlich, dass hier mittelfristig keine relevanten Antworten zu erwarten sind.
Die Geistes- und Sozialwissenschaften haben in der gesellschaftlichen Realität für die Beurteilung der Frage des Freien Willens durch die zahlreichen naturwissenschaftlichen Nachweise von Gehirnaktivität erheblich an Bedeutung verloren. Der Grad an Überzeugungskraft mancher durchaus gewagter Theorie scheint einherzugehen mit der Farbkraft des Bildes, das das bösartig arbeitende Gehirn eines Kriminellen zeigt, und in vielen (nicht unbedingt wissenschaftlichen) Veröffentlichungen wird heute die Überzeugung wiedergegeben, mit den neuen Forschungen aus Gentechnik und Medizin sei das Rätsel um die Frage des Bösen Gens oder wenn man will des Freien Willens nahezu bewiesen.
Die Übermacht der naturwissenschaftlichen Vermutungen über den Freien Willen in der gesellschaftlichen Beurteilung ist jedoch nicht durch Forschungsergebnisse begründet. Diskussionen über das Libet-Experiment werfen tatsächlich mehr Fragen auf, als Erklärungen dafür bereitstehen. So wurde der Zeitpunkt der Willensentscheidung (die Hand zu bewegen) mit dem Zeitpunkt der Bewusstwerdung der Willensentscheidung gleichgesetzt und daraus geschlossen, die Entscheidung sei unbewusst getroffen. Es wurde unterstellt, dass der Zeitpunkt der angenommenen tatsächlichen Entscheidung mit dem Nachweis der dazugehörigen Gehirnaktität stattgefunden hat und schlussgefolgert: vorgelagerte Gerhinaktivität beweist den fehlenden Freien Willen. Einzuwenden ist: es bleibt weiterhin unbekannt, aus welchem Grund das Gehirn eine Entscheidung zum Bewegen der Hand getroffen hat, man weiss nicht, ob die Ursache in einem Freien Willen an einem nicht gemessenen Ort zu finden ist, und ob dies ein Hinweis ist auf transzendente oder göttliche Einflüsse oder aber auf ungeklärte biologische Abläufe ist. Man kann es einfach zusammenfassen, über die wirklichen Ursachen weiss man garnichts, und so sind die Naturwissenschaften in diesem Punkt denkbar weit weg von der Beantwortung der Frage des “Freien Willens”, und hinter den eindeutigen und zweifelsfreien Ergebnissen aus dieser Forschung bleiben die eigentlichen Fragen vollständig unbeantwortet.
Die Mutlosigkeit der Sozialwissenschaften
Noch in den 70er Jahren, der Hoch-Zeit der soziologischen Forschung, überwog die Neigung, die Umwelt im überwiegenden Maße für die Straftäterwerdung verantwortlich zu machen, in einer kulturellen Phase, in der kaum ein Thema kompliziert genug sein konnte, um sich damit auseinanderzusetzen. Im Zeitalter zunächst des Fernsehens und nun des Internets tut sich die Soziologie schwer, ohne wirklich neue Forschungsergebnisse im Wettbewerb mit bunten Bildern und einfach formulierbaren Fakten der jetzt naturwissenschaftlich dominierten Gesellschaft Gehör zu finden.
Wer heute aktuelle Beiträge zum Thema der sozialen Vererbungsforschung liest und dabei auf soziologisches Forschungsmaterial stösst, wird die Kränkung des Berufsstandes spüren, dessen Hintergrund wohl im Verlust der Deutungshoheit für die Ursachen von sozialem Fehl- oder Wohlverhalten zu finden ist. An vielen Stellen wird die möglicherweise berechtigte Kritik laut, dass vorschnelle Urteile über die Grundlagen sozialer und genetischer Vererbung ohne weitere Forschung nicht zuverlässig zu treffen sind. Vornehmlich wird bemängelt, dass die medizinisch/biologische Forschung beobachtete Zusammenhänge nicht ausreichend sauber von Fremdeinflüssen aus dem sozialen Umfeld trennt, und fairerweise, dass teilweise die Soziologen ähnlich unsauber mit möglichen Ursachen aus dem medizinisch/biologischen Umfeld verfahren.
Doch während man den medizinisch oder biologisch forschenden Wissenschaftlern noch entschuldigen kann, dass die Gen- und Hirnforschung erst ganz am Anfang stehen und in diesen Bereichen zumindest immer neue Ideen entwickelt wurden, um mit verschiedenen Methoden wenigstens irgendwelche Fakten zu sammeln (deren Interpretation dann freilich nochmal eine ganz andere Sache ist), scheint der Forschungswille der Soziologie in diesem Bereich fast zum Stillstand gekommen zu sein.
Hat der Soziologe aufgegeben, eine Kehrtwende gemacht und sich nun dem Fakten-Diktat der Naturwissenschaften ergeben? Welche Ursache hat es, dass die Soziologie keine wirklich neuen Ansätze gefunden hat, mit denen sie einen Teil ihrer Deutungskompetenz und damit ihren seit den 70er Jahren massiv verlorenen Einfluss auf die soziokulturelle Entwicklung zurückzuerobern könnte?
Die Soziologie als nützliches Werkzeug
Wohl ein wesentliches Problem, am dem die soziologische Forschung hier scheitert ist methologischer Natur. Die ständig neuen Forschungsergebnisse anderer Wissenschaftsbereiche werden als konkurrierend empfunden (wie überhaupt Forschungsergebnissen jenseits der Sozialwissenschaften aufs tiefste misstraut wird) und es konnte scheinbar noch kein Weg gefunden werden, wie handfeste Fakten aus Medizin und Biologie widerspruchslos in soziologische Forschungen einfliessen können.
Unbestritten ist, dass singuläre, unabhängige Betrachtungen einzelner Phänomene zumeist zu deutlich weniger zutreffenden Schlüssen führen, als die Betrachtung eines miteinander wechselwirkenden Gesamten.
Ein kleinlicher Streit um die Frage von Prozentverteilungen, in welchem Maße genetische Veranlagungen oder soziale Umstände für unerwünschte Entwicklungen verantwortlich zu machen sind, ist nicht nur wenig hilfreich, sondern impliziert oder provoziert auch Fehler, wie das folgende Beispiel zeigen soll.
Im Falle der Beurteilung genetischer Aspekte der Sozialisation würde es unter Einbeziehung von Wechselwirkungseffekten beispielsweise denkbar sein, dass bereits eine 3%ige genetische Disposition ein 100prozentig widersoziales Verhalten hervorbringt.
Wären die 3 Prozent nicht da, könnte man von 0 % widersozialem Verhalten ausgehen. Daraus zu schliessen, in diesem Fall seien 100% der Ereignisse genetisch bedingt, erscheint hier völlig und ganz offensichtlich unzulässig.
Mit so ermittelten Werten werden jedoch die aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen geführt: die in Prozenten angegebenen Größen beschreiben jeweils den Ereigniseintritt, und nicht die qualifizierte Ursache (also die eigentliche genetische Disposition), über die in Zahlen ebengerade mangels Wissen garnichts gesagt wird.
Wenn es nun schwer oder unmöglich ist, qualifizierte Ursachen (für die Entwicklung sozialschädlichen Verhaltens) zu identifizieren und zuzuordnen, bliebe mindestens die Untersuchung der Wechselwirkungseffekte, von denen überall zu lesen ist, die von niemandem bestritten werden, über die aber, wenn man nach expliziten Forschungen zu diesem Thema sucht, kaum irgendetwas zu finden ist.
Fakten akzeptieren und Wege aufzeigen
Eine Veränderung der soziologischen Sicht auf die Forschungsobjekte scheint notwendig, und diese erfordert die Antwort auf die Frage, auf welche Weise in der Soziologie Merkmale wie Alter, Beruf, Herkunft etc. zunächst hilfsweise um zusätzliche Merkmale wie genetische Dispositionen zu ergänzen sind, um anschliessend in Forschungen diesen Merkmalen Beobachtungen zuordnen zu können, bei denen andere Hintergründe vernünftigerweise auszugeschlossen werden können.
Ein erstes Ziel (bei dem die Soziologie sich der Hilfe anderer Wissenschaften bedienen sollte) wäre es, Verhaltensmuster (idealerweise ab Beginn der Sozialisation) zu identifizieren, denen (etwa im Babyalter zum Teil auch mangels anderer möglicher Ursachen) genetische Anlagen unterstellt werden können (und deren eigentliche Ursache man auch garnicht kennen muss).
Im Ergebnis wäre dann eine Untersuchung von Wechselwirkungsbeziehungen möglich – und diese könnte neue, interessante und vielversprechende Zusammenhänge hervorbringen, für die sich die Methoden der Soziologie hervorragend eignen: beobachtbare Ereignisse unter Auslassung der Frage, warum etwas so oder so ist, in einen strukturierten und der Weiterentwicklung der Gesellschaft dienlichen Zusammenhang zu bringen. Im Gegensatz zu den aktuellen Forschungsergebnissen aus den Naurwissenschaften, die im jetzigen Stadium für diese Frage noch an keiner Stelle auch nur irgendeinen Nutzen bringen, ist davon auszugehen, dass soziologische Forschungsergebnisse ein deutlich erkennbares Nutzenpotenzial erreichen können.
Es liessen sich Antworten auf die Bedeutung von Verstärkungseffekten und Selektionseffekten finden. Lassen sich Verbindungen zwischen genetischen Dispositionen, beobachteten Wechselwirkungen und späterer Zuwendung zu bestimmten sozialen Gruppen nachweisen? In welcher Weise kann die Gesellschaft auf die Herausforderungen, die sich aus möglicherweise genetisch disponierten Verhaltensweisen ergeben, reagieren?
Denkbar ist auch, dass bereits eine eigentlich unwesentliche genetische Disposition ausreicht, um im Laufe der Jahre durch negative soziale Wechselwirkungen und nachfolgende Selektion sozialer Bindungen eine deutliche Neigung für Schwierigkeiten bei der sozialen Integration zu erreichen.
Ein Nachweis von genetisch disponierten Ursachen für im Rahmen der Sozialisation auftretende Wechselwirkungen könnte gerade nicht die in der Soziologie als inakzeptabel geltende Vermutung stärken, dass die Entwicklung eines Menschen weitgehend vordisponiert sei. Sondern im Gegenteil das Lager derjenigen, die aufzeigen können, mit welchen Möglichkeiten an welchen Stellen trotz aller genetischer Disposition dennoch sinnvoll interveniert werden kann.
Durch die (notfalls hilfsweise) Unterstellung, dass genetische Dispositionen Einfluss haben und den Verzicht auf die strikte methologische Trennung der beiden Ansätze (Gene, Soziales) ergeben sich für die Soziologie neben den beschriebenen zahlreiche weitere Forschungsmöglichkeiten. Ergebnisse könnten der Soziologie die Chance bieten, unserer Gesellschaft deutlich bessere (und dringend notwendige) Mittel an die Hand zu geben, auf soziale Probleme zu reagieren und so nach 30 Jahren der weitgehenden Bedeutungslosigkeit endlich wieder einen substanziellen Beitrag für die Weiterentwicklung unserer sozialen Kultur zu leisten.
12/2009 Martin Richter